Barrierefreiheit

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Barrierefreiheit

Viele Menschen sind auf barrierefreie Internet-Angebote, das sogenannte inklusive Internet, der öffentlichen Verwaltung angewiesen. Behörden sollten daher ein großes Interesse daran haben, alle Bürger gleichermaßen gut zu versorgen. Reicht dies als Motivation noch nicht aus, hat die EU-Kommission nun einen Termin genannt, bis zu dem Behörden Bericht erstatten müssen.

Gleiche Chancen für alle – Behörden ohne Hindernisse

Barrierefreiheit

Die Vorgaben zur Barrierefreiheit sollen es allen Menschen ermöglichen, an sämtlichen Bereichen des täglichen Lebens teilnehmen zu können. So sind Behörden nach der EU-Richtlinie 2016/2102 verpflichtet, die Benutzung von mobilen Applikationen sowie Webseiten, das heißt Internet und Extranet, für alle Bürger zu ermöglichen. Das gilt auch für Web-basierte und nicht Web-basierte Anwendungen, die Angestellte im öffentlichen Bereich nutzen. Die strengen Kontrollen der EU-Kommission verschaffen dem Thema Barrierefreiheit in der IT derzeit neue Brisanz – so ist Deutschland im Jahr 2019 bereits zur Einhaltung der Vorgaben ermahnt worden.

Warum Barrierefreiheit bei IT-Anwendungen insgesamt so wichtig ist und wie die öffentliche Verwaltung die damit verbundenen Anforderungen umsetzt, erläutert Knut Ludwiczak, IT Consultant in der Business Line Public Sector bei Materna.

IT Consultant in der Business Line Public Sector Knut Ludwiczak, IT Consultant in der Business Line Public Sector

Herr Ludwiczak, was bedeutet Barrierefreiheit im Kontext der IT?

Barrierefreiheit ermöglicht allen Menschen die Nutzung von IT-Anwendungen – unabhängig davon, ob es sich um einen Menschen mit oder ohne Einschränkung handelt. Sie stellt sicher, dass auch Menschen mit einer Seh- oder Hörbehinderung oder einer kognitiven oder motorischen Einschränkung Webseiten oder Software-Lösungen nutzen können. Ich möchte betonen, dass eine barrierefreie Software nicht nur für Menschen mit einer schwerwiegenden Einschränkung von Vorteil ist, sondern auch für Menschen mit einer leichten Einschränkung wie z. B. Farbfehlsichtigkeit, Altersweitsichtigkeit oder einer Schreib-Leseschwäche.

Welche Probleme verursachen nicht-barrierefreie Anwendungen?

Ein klassisches Beispiel ist eine IT-Anwendung, die sich nicht vollständig über die Tastatur bedienen lässt. Sie stellt blinde Menschen oft vor unüberwindbare Hürden, da diese auf die Tastatur bzw. auf eine Braillezeile angewiesen sind. Gleiches gilt für Menschen, die aus motorischen Gründen keine Computermaus bedienen können.

Ein weiteres Problem ist ein zu niedrig gewählter Kontrast zwischen Schrift- und Hintergrundfarbe. Menschen mit Sehbehinderungen können dann Informationen nur schwer abrufen. Ebenfalls kritisch ist der Einsatz von Farben, um Informationen zu übermitteln, wenn es dafür keine Textadäquate gibt. So kann zum Beispiel die Wahl der Farben rot oder grün dazu führen, dass farbsehbehinderten Nutzern eine Unterscheidung der Farben eventuell nicht möglich ist. Die Rot-Grün-Schwäche ist in der deutschen Gesellschaft recht häufig anzutreffen.

Diese Herausforderungen betreffen übrigens nicht nur die Bürger, die die Dienste der Behörden in Anspruch nehmen möchten. Auch Mitarbeiter der Einrichtungen, die unter Einschränkungen leiden, sind von Barrieren wie diesen betroffen. Daher ist Barrierefreiheit im öffentlichen Sektor ein internes und externes Thema.

Die Barrierefreiheit ist durch die anstehenden Nachweispflichten wieder besonders aktuell.

Genau. Zwar gibt es schon seit dem Jahr 2002 die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV), die auch von vielen Angeboten bereits berücksichtigt wird. Aber ab Juni 2021 müssen Bund und Länder der Zentralstelle für Barrierefreiheit umfassend über den Stand der Barrierefreiheit von Anwendungen Bericht erstatten. Die Zentralstelle muss dann ab Dezember 2021 an die EU berichten. Und wie die Verwarnung der EU-Kommission an Deutschland im Jahr 2019 gezeigt hat, besteht durchaus noch Handlungsbedarf an der einen oder anderen Stelle (Quelle: https://ec.europa.eu/germany/news/20190725-vertragsverletzungsverfahren_de).

Worin unterscheiden sich die EU-Richtlinien von der BITV?

Die EU-Kommission verlangt ein Reporting über die Barrierefreiheit und hat eine Reihe von Richtlinien erlassen. Dies wirkt sich beispielsweise auf den bekannten BITV-Test aus, der auf WCAG-Vorgaben (Web Content Accessibility Guidelines) basiert, und mit dem viele Jahre erfolgreich die Barrierefreiheit getestet wurde. Erreicht eine Software dort 100 Punkte, galt sie als barrierefrei. Dieses Punktesystem gibt es nicht mehr, da die EU-Richtlinien nur die zwei Ergebnisse „erfüllt“ oder „nicht erfüllt“ kennen. Eine Software mit 99 Punkten wäre demnach nicht barrierefrei, obwohl sie vermutlich einen ausreichenden Funktionsumfang für Menschen mit Behinderung bieten würde.

Rund um die Barrierefreiheit gilt es eine offenbar ganze Reihe von Vorgaben zu beachten. Welche davon sind denn besonders relevant?

Die EU-Kommission hat eine Reihe von Vorgaben zur Harmonisierung erlassen, wie die EU-Richtlinie 2016/2102. Auch die von der europäischen Normungsorganisation ETSI erlassene Richtlinie EN 301 549 enthält viele relevante Vorgaben. Diese definiert Anforderungen an die Barrierefreiheit für ITK-Systeme des öffentlichen Sektors. Wichtig ist zu beachten, dass neben Software-Anwendungen auch Dokumente barrierefrei zugänglich sein müssen. Darüber hinaus ist das deutsche Recht zu berücksichtigen. Hier gibt es das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), die bereits erwähnte BITV auf Bundesebene sowie weitere Ländergesetze. Diese können von der Bundesebene noch einmal deutlich abweichen.

Wer außer Bund und Ländern ist von der neuen Gesetzgebung denn noch betroffen?

In der Tat ist es so, dass nicht nur die öffentliche Verwaltung in Bund und Ländern die EU-Vorgaben beachten muss. Die Richtlinien betreffen zum Beispiel auch Krankenkassen, Industrie- und Handelskammern sowie Ärztekammern.

Können Sie den Lesern Empfehlungen zur Umsetzung der Barrierefreiheit geben?

Aus unserer Projekterfahrung heraus kann ich drei Punkte nennen. So sollten Behörden frühzeitig Experten für Barrierefreiheit und Usability mit ins Boot holen, damit das Thema bereits in der Konzeptionsphase und bei der Erstellung des Lasten- bzw. Pflichtenheftes mitgedacht wird. Weiterhin sollten die Projektbeteiligten zu Beginn in einem Workshop für das Thema sensibilisiert werden. Und schließlich sollten während der Entwicklungszeit fortlaufende Tests zur Barrierefreiheit und zur Usability durchgeführt werden. Die Testergebnisse sollten nachfolgend mit den Projektverantwortlichen besprochen werden, was wiederum der Sensibilisierung dienlich ist, aber auch der Erarbeitung von Lösungen dient.

In vielen Behörden finden sich historisch gewachsene und heterogene Anwendungslandschaften. Wie lassen sich diese effizient auf ihre Barrierefreiheit testen?

In unseren Kundenprojekten gehen wir schrittweise vor und evaluieren bestehende Anwendungen und Internet-Angebote in kurzen Testphasen. Diese Prüfungen lassen sich auf definierte Zeiträume oder Bereiche einer Anwendung begrenzen. So können wir innerhalb einer kurzen Zeit eine Anwendung analysieren. Damit ist ein systematisches Vorgehen auch in heterogenen Umgebungen möglich. Mit unserer Analyse zeigen wir den Grad der Barrierefreiheit von zum Beispiel Apps, Fachverfahren, Webseiten oder auch Dokumenten auf. In einem Prüfbericht fassen wir die Auswirkungen einer fehlenden Barrierefreiheit für den Menschen zusammen und zeigen mögliche Lösungsszenarien auf, die wir dann gemeinsam mit dem Kunden umsetzen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Informationen zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)